Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker

von Prof. Dr. Sigm. Freud

 

[STEMPEL: Kommission zur Erhebung
militärischer Pflichtverletzungen.

In Empfang genommen am 25. Februar 1920.]

 

 Es hat schon in Friedenszeiten reichlich Kranke gegeben, die nach Traumen, d. h. schreckhaften und gefährlichen Erlebnissen wie Eisenbahnunfälle[n] u. dgl., schwere Störungen des Seelenlebens und der Nerventätigkeit gezeigt haben, ohne daß die Ärzte in der Beurteilung dieser Zustände einig geworden wären.

 Die einen haben angenommen, daß es sich bei diesen Kranken um schwere Verletzungen des Nervensystems handle, ähnlich den Blutungen und Entzündungen in nicht-traumatischen Krankheitsfällen, und als die anatomische Untersuchung solche Vorgänge nicht nachweisen konnte, haben sie doch den Glauben an feinere gewebliche Veränderungen als Ursache der beobachteten Symptome festgehalten. Sie haben also diese Unfallskranken zu den organisch Kranken gerechnet.

 Andere Ärzte haben von Anfang an behauptet, daß man diese Zustände nur als funktionelle Störungen bei anatomischer Intaktheit des Nervensystems auffassen könne. Wie so schwere Störungen der Funktion ohne grobe Verletzung des Organs zustande kommen können, bereitete dem ärztlichen Verständnis lange Zeit Schwierigkeiten.

 Der eben beendete Krieg hat nun eine ungeheuer große Anzahl solcher Unfallskranken geschaffen und zur Beobachtung gebracht. Dabei ist die Entscheidung der Streitfrage zugunsten der funktionellen Auffassung gefallen. Die weitaus überwiegende Mehrzahl der Ärzte glaubt nicht mehr daran, daß die sogenannten Kriegsneurotiker infolge von greifbaren, organischen Verletzungen des Nervensystems krank sind, und die Einsichtigeren unter ihnen haben sich auch bereits entschlossen, anstatt der unbestimmten Bezeichnung »funktionelle« Veränderung die unzweideutige Angabe »seelische« Veränderung einzusetzen.

 Obwohl die Äußerungen der Kriegsneurosen zum großen Teil Bewegungsstörungen – Zittern und Lähmungen – waren und obwohl es nahe genug lag, so groben Einwirkungen wie der Erschütterung durch eine in der Nähe platzende Granate oder eine Erdverschüttung auch grob mechanische Effekte zuzuschreiben, so ergaben sich doch Beobachtungen, welche an der psychischen Natur der Verursachung der sogenannten Kriegsneurosen keinen Zweifel ließen. Was konnte man dagegen sagen, wenn die nämlichen Krankheitszustände auch hinter der Front, fern von diesen Schrecknissen des Krieges oder unmittelbar nach dem Einrücken vom Urlaub auftraten? Die Ärzte wurden also daraufhingewiesen, die Kriegsneurotiker ähnlich aufzufassen wie die Nervösen des Friedensstandes.

 Die von mir ins Leben gerufene sogenannte psychoanalytische Schule der Psychiatrie hatte seit fünfundzwanzig Jahren gelehrt, daß die Friedensneurosen auf Störungen des Affektlebens zurückzuführen seien. Dieselbe Erklärung wurde nun ganz allgemein auf die Kriegsneurotiker angewendet. Wir hatten ferner angegeben, daß die Nervösen an seelischen Konflikten leiden und daß die Wünsche und Tendenzen, welche sich in den Krankheitserscheinungen ausdrücken, den Kranken selbst unbekannt, also unbewußt sind. Es ergab sich also leicht als die nächste Ursache aller Kriegsneurosen die dem Soldaten unbewußte Tendenz, sich den gefahrvollen oder das Gefühl empörenden Anforderungen des Kriegsdienstes zu entziehen. Angst um das eigene Leben, Sträuben gegen den Auftrag, andere zu töten, Auflehnung gegen die rücksichtslose Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit durch die Vorgesetzten waren die wichtigsten Affektquellen, aus denen die kriegsflüchtige Tendenz gespeist wurde.

 Ein Soldat, in dem diese affektiven Motive mächtig und klar bewußt gewesen wären, hätte als Gesunder desertieren oder sich krank stellen müssen. Die Kriegsneurotiker waren aber nur zum kleinsten Teil Simulanten; die Affektregungen, die sich in ihnen gegen den Kriegsdienst sträubten und sie in die Krankheit trieben, wirkten in ihnen, ohne ihnen bewußt zu werden. Sie blieben unbewußt, weil andere Motive, Ehrgeiz, Selbstachtung, Vaterlandsliebe, Gewöhnung an Gehorsam, das Beispiel der anderen, zunächst die stärkeren waren, bis sie bei einem passenden Anlaß von den anderen, unbewußt wirksamen Motiven überwältigt wurden.

 An diese Einsicht in die Verursachung der Kriegsneurosen schloß sich eine Therapie an, die gut begründet schien und anfänglich sich auch als sehr wirksam erwies. Es schien zweckmäßig, den Neurotiker als Simulanten zu behandeln und sich über den psychologischen Unterschied zwischen bewußter und unbewußter Absicht hinauszusetzen, obwohl man wußte, daß er kein Simulant sei. Diente seine Krankheit der Absicht, sich einer unleidlichen Situation zu entziehen, so grub man ihr offenbar die Wurzeln ab, wenn man ihm das Kranksein noch unleidlicher als den Dienst machte. War er aus dem Krieg in die Krankheit geflüchtet, so wendete man Mittel an, die ihn zwangen, aus der Krankheit in die Gesundheit, also in die Kriegsdiensttauglichkeit zurückzufliehen. Zu diesem Zwecke bediente man sich schmerzhafter elektrischer Behandlung, und zwar mit Erfolg. Es ist eine nachträgliche Beschönigung, wenn Ärzte behaupten, die Stärke dieser elektrischen Ströme sei die nämliche gewesen, die von jeher bei funktionellen Störungen zur Verwendung kam. Dies hätte nur in den leichtesten Fällen wirken können, entsprach ja auch nicht dem zugrunde liegenden Raisonnement, daß das Kranksein dem Kriegsneurotiker verleidet werden solle, so daß seine Motive zugunsten der Genesung umkippen müßten.

 Diese in der deutschen Armee entstandene, in therapeutischer Absicht schmerzhafte Behandlung konnte gewiß auch in maßvoller Weise geübt werden. Wenn sie in den Wiener Kliniken angewendet wurde, so bin ich persönlich überzeugt, daß sie niemals durch die Initiative von Professor Wagner-Jauregg ins Grausame gesteigert worden ist. Für andere Ärzte, die ich nicht kenne, will ich auch nicht einstehen. Die psychologische Schulung der Ärzte ist ganz allgemein recht mangelhaft, und mancher mag daran vergessen haben, daß der Kranke, den er als Simulanten behandeln will, doch keiner ist.

 Dies therapeutische Verfahren war aber von vornherein mit einem Makel behaftet. Es zielte nicht auf die Herstellung des Kranken oder auf diese nicht in erster Linie, sondern vor allem auf die Herstellung seiner Kriegstüchtigkeit. Die Medizin stand eben diesmal im Dienste von Absichten, die ihr wesensfremd sind. Der Arzt war selbst ein Kriegsbeamter und hatte persönliche Gefahren, Zurücksetzung und den Vorwurf der Vernachlässigung des Dienstes zu fürchten, wenn er sich durch andere Rücksichten als die ihm vorgeschriebenen leiten ließ. Der unlösbare Konflikt zwischen den Anforderungen der Humanität, die sonst für den Arzt maßgebend sind, und denen des Volkskrieges mußte auch die Tätigkeit des Arztes verwirren.

 Die anfangs glänzenden Erfolge der Starkstrombehandlung erwiesen sich dann auch nicht als dauerhaft. Der Kranke, der, durch sie hergestellt, an die Front zurückgeschickt worden war, konnte das Spiel von neuem wiederholen und rückfällig werden, wobei er zum mindesten Zeit gewann und doch jener Gefahr auswich, die gerade aktuell war. Stand er wieder im Feuer, so trat die Angst vor dem Starkstrom zurück, wie während der Behandlung die Angst vor dem Kriegsdienst verblichen war. Auch machte sich die im Laufe der Kriegsjahre rasch zunehmende Ermüdung der Volksseele und ihre sich steigernde Abneigung gegen das Kriegführen immer mehr geltend, so daß die Erfolge der besprochenen Behandlung zu versagen begannen. In dieser Konstellation gab ein Teil der Militärärzte der für die Deutschen charakteristischen Neigung zur rücksichtslosen Durchsetzung ihrer Absichten nach, was niemals hätte geschehen dürfen. Die Stärke der Ströme sowie die Härte der sonstigen Behandlung wurden bis zur Unerträglichkeit gesteigert, um den Kriegsneurotikern den Gewinn, den sie aus ihrem Kranksein zogen, zu entziehen. Es ist unwidersprochen geblieben, daß es damals zu Todesfällen während der Behandlung und zu Selbstmorden infolge derselben in deutschen Spitälern kam. Ich weiß aber absolut nicht anzugeben, ob die Wiener Kliniken auch diese Phase der Therapie mitgemacht haben.

 Für das endliche Scheitern der elektrischen Therapie der Kriegsneurosen kann ich einen zwingenden Beweis anführen. Im Jahre 1918 veröffentlichte Dr. Ernst Simmel, Leiter eines Lazaretts für Kriegsneurotiker (in Posen) eine Broschüre, in welcher er seine außerordentlich günstigen Erfolge bei schweren Fällen von Kriegsneurosen durch die von mir angegebene psychotherapeutische Methode mitteilte. Dank dieser Veröffentlichung wurde der nächste psychoanalytische Kongreß in Budapest, September 1818 [sic], von offiziellen Delegierten der deutschen, österreichischen und ungarischen Armeeverwaltung besucht, welche dort die Zusage machten, daß Stationen zur rein psychischen Behandlung der Kriegsneurotiker eingerichtet werden sollen. Dies geschah, obwohl den Delegierten kein Zweifel daran bleiben konnte, daß bei dieser schonenden, mühsamen und langwierigen Behandlung auf eine möglichst beschleunigte Herstellung der Dienstfähigkeit dieser Kranken nicht zu rechnen sei. Die Vorbereitungen für die Einrichtung solcher Stationen waren eben im Gange, als der Umsturz hereinbrach, dem Krieg und dem Einfluß der bis dahin allmächtigen Amter ein Ende setzte. Mit dem Krieg verschwanden aber auch die Kriegsneurotiker, ein letzter, aber schwerwiegender Beweis für die psychische Verursachung ihrer Krankheiten.

 Wien, 23.2.20

 

Freud, Sigmund: Gesammelte Werke chronologisch geordnet. Nachtragsband: Texte aus den Jahren 1885 bis 1938. Frankfurt am Main: Fischer, 1987. Seiten 704–710.

 

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